Forecasting | Digitale Trendforschung | Big Data
tl;dr Wir blicken weiterhin in die Daten und stellen fest: Reisen verändert sich. Nicht nur in diesem Sommer, sondern auch darüber hinaus. Es gibt 5 große Trends für die Reisebranche, die sich heute schon abzeichnen.
In unserem ersten Artikel Urlaubslust und Reisefrust haben wir bereits den Einfluss des Corona-Virus auf die Reisevorlieben der Deutschen untersucht: Während sich bei Pauschaltouristen wenig verändert, haben Individualtouristen durch Corona mit einer Vielzahl von Herausforderungen zu kämpfen, was zu einer Umstellung ihrer Reiseplanung vermutlich bis mindestens Mitte 2021 führen wird.
Fernreisen werden vermieden, man bleibt in Deutschland und im nahen europäischen Ausland. Die traditionelle Reisebranche ächzt und darbt und wird gezwungen, sich mal eben neu zu erfinden.
Doch der Wunsch nach intensiven Reiseerfahrungen bleibt. Wie lässt sich also der Wegfall von Fernreisen kompensieren? Führt die Pandemie zu neuen Reisetrends? Wir wagen eine Prognose auf Basis einer Big-Data-Analyse von 2,7 Millionen Forendiskussionen zum Thema Reisen (eine ausführlichere Erklärung gibts im ersten Absatz von Teil 1).
Bevor wir ins Detail gehen: Eines wird aus den Daten schnell offensichtlich — weil eine Reise bis ans Ende der Welt oder in exotischere Gefilde nicht mehr möglich ist, wird das Reisen in die Nähe spezialisierter und extremer. Der Psychoanalytiker C. G. Jung würde dieses Verhalten als Kompensation bezeichnen.
Sag mir, wie du Urlaub machst und ich sag dir, wer du bist!
Individualurlauber suchen im Urlaub nach intensiven Erfahrungen. Daran wird auch Corona nichts ändern, allerdings an der Wahl ihrer Ziele! Wir vermuten, dass Deutschland und die EU als Urlaubsdestination in den nächsten zwei Jahren zur bevorzugten Wahl werden.
Diese Länder bieten Individualis mehr Sicherheit als exotischere Ziele. Und sie werden dort ihren Wunsch, Intensives zu erleben und aktiv zu sein, kompensieren. Wir glauben daher, dass Individualis Treiber einer neuen Urlaubsspezialisierung werden, die wir aus vielen anderen Branchen kennen.
Beispiel Fahrrad: Wer heute eins kaufen will, weiß, dass es für jedes Ziel und jeden Anlass das passende Gefährt gibt — vom städtischen Singlespeed, übers Downhillbike bis zum Gravelbike. Dieser Trend zur Spezialisierung lässt sich auch in anderen Bereichen wie Ernährung, Achtsamkeit und Fitness ausmachen. Wir sehen im Wegbrechen von Fernreisen eine große Chance für deutsche und europäische Anbieter, den Urlaubsmarkt innerhalb Deutschlands und in der EU exotischer zu gestalten.
Aus diesen fünf Trends, basierend auf Natur-, Freizeit-, Essens-, Sport- und Gesundheitsbedürfnissen, entstehen neue Urlaubsformate:
1. ACTIVATE ME — Adrenalin im heimischen Aktivurlaub
„Abenteuer heißt für mich: mindestens eine Woche voller Action und nicht nur ein kurzer Adrenalinkick. Nur faul in der Sonne liegen, finde ich furchtbar, da interessieren mich motorisierte Sportarten im Urlaub viel mehr! Am liebsten würde ich den ganzen Tag (nicht nur eine halbe Stunde) Jetski oder Speedboat fahren. Wichtig ist, dass ich selber fahren darf. Oder auch Parasailing, Wingsuitfliegen … alles Aktivitäten, die ich echt spannend finde!“
(O-Ton Individualreisender)
Egal ob bei Pauschal- oder Individualtouristen: Gespräche über Aktivurlaube haben in den letzten Jahren deutlich zugenommen.
Im wohlverdienten Urlaub darf und soll zwischen Cocktail und Strand auch mal was passieren. Die Bandbreite der Aktivitäten ist groß, ob wandern oder biken, surfen oder tauchen. Hauptsache, es ist was los!
Das erklärt, warum sich die bayerische Voralpenregion vor outdoorfreudigem Besucherandrang kaum retten kann und Fahrradhändler mit dem Verkaufen und Hersteller mit dem Produzieren nicht hinterherkommen.
Würde man Daten in Musik übersetzen, wäre Bicycle Race von Queen eine adäquate Hymne für diesen Hype.
Durch die Corona-Erfahrung wird diese einfache Art des Ferienmachens wieder populär. Wir glauben, dass damit auch die Grenzen zwischen Urlaub (Real-Holidays) und Freizeit (Near-Holidays) verschwimmen! Radtouren, Zelten, Tagestrips, Wochenend-Campen, kleine Abenteuer vor Ort etc. sind kleine Urlaubshäppchen für den Alltag.
Wir werden in den nächsten Jahren wieder das zu nutzen lernen, was unsere unmittelbare Umgebung hergibt und rüsten uns hardwareseitig auf. Gerade jüngere Generationen können solche Kurzformate leicht in ihre Work-Life-Balance integrieren.
Einen ganzen Urlaub als Legitimation, um endlich aktiv zu werden, braucht nur die klassische Leben-um-zu-arbeiten-Generation. So oder so. Der Wunsch aktiv zu sein, ist auch eine gute Nachricht für die gesamte Freizeitbranche.
Was verstehen Pauschaltouristen unter »Aktivurlaub«?
2. SLOW ME DOWN — Minimalismus & runterkommen in der Natur
Wenn uns Corona eins gezeigt hat, dann, wie faszinierend es war, in einer Welt ohne Fluglärm zu leben. In einer Stadt ohne Autoverkehr. Einen Himmel zu sehen, ohne Kondensstreifen (so konnten selbst Aluhutträger mal kurz verschnaufen, zumindest beim Thema Chemtrails). Diese Entspannung haben viele für sich wiederentdeckt.
In der Langsamkeit, möglichst nah an der Natur, wird auch das Reisen wieder zu einer Intensiverfahrung. Zu sich. Zu anderen. Zur Natur. Ob Retro-Reisen mit der Postkutsche, mit dem Fahrrad, dem Floß, dem Hausboot, zu Fuß etc.
Anbieter können sich hier kreativ austoben. Hauptsache, es geht langsam voran! Denn viele werden in den nächsten Jahren im Ausgebremstsein einen neuen Benefit erkennen, den man sich als Gegenpol zu einer hoch beschleunigten Welt bewusst gönnen möchte.
„Landschaft ist uns wichtig, dann kann man auch fotografieren, und Ruhe — aber auch nicht zu viel Ruhe — und Dinge, die es woanders nicht gibt. Wir finden auch alles super, was mit Tieren zu tun hat, zum Beispiel der Besuch einer Schaffarm, das wäre spannend.“ (O-Ton Individualreisende)
3. RETREAT ME — Wellness & Detox zu Hause und im nahen Umkreis
Auch das hat Corona deutlich gemacht: Unser Körperbewusstsein trotzt jeder Krise. Zwischen dem 20. und 27. März stieg bei YouTube die Zahl der Aufrufe um 63 % für Gesundheits- und Fitnessvideos. Das konnte die Social-Video-Analyse-Firma Tubular Lab zeigen.
Mit Beginn des Lockdowns am 23. März war gefühlt ganz Deutschland im Joggingfieber. Hauptsache raus, Hauptsache bewegen! So werden sich auch ganze Urlaube noch stärker an Gesundheits- und Immunstärkungszielen ausrichten, vermuten wir.
Mit Detoxing, Ayurvedakuren, heilfasten und Yogaretreats reseten wir uns von exzessiven Lebensweisen oder stärken uns für den Rest des Jahres. Askese und Selbstoptimierung stehen hier über allem! Die Destination ist dabei erst mal zweitrangig. Dorthin lotsen dann entsprechende Keywords, Hashtags oder Empfehlungen.
Anbieter, die sich hier klar als Selfcare-Oasen positionieren und SEM, SEO sowie Influencer für sich zu nutzen wissen, machen das Rennen.
„Ich will Anfang des Jahres zwei Wochen Urlaub machen, um mal zur Ruhe zu kommen. Aber auch ein wenig, um mich selbst zu finden. Dazu würde ich gerne Yoga machen, meditieren oder vielleicht auch aufs SUP (Stand Up Paddling).“ (O-Ton Individualreisende)
4. HIDE ME AWAY — Raum und Abstand von den Massen
Durch Corona hat sich unser Verhältnis zu Menschenmassen geändert. Wir meiden touristische Hotspots und suchen unsere Erholung in verlassenen Gegenden. Auch aus Angst vor erneuten, mutierten oder neuartigen Viren.
Eine neue Reisekategorie könnte sich dadurch ihren Weg bahnen: „Nah entfernte Orte“. Nicht nur aus Umweltgründen, sondern vor allem aus dem Wunsch nach Sicherheit und Bequemlichkeit wächst die Attraktivität solcher Orte. Kein Flug, keine Einschränkungen, keine Ängste. Einfach nur genießen.
Das Urlaubserlebnis sucht man nun nicht mehr in der Exotik des Reiselandes, sondern im Besonderen der Nähe (und in Nachbarländern) — vom modernen Tiny House im Grünen über „alternative Campingplätze“ bis zum Kleinod mit Bauernhof-Ambiente.
„Ich liebe die Lüneburger Heide. Sie ist groß, es gibt tolle einsame Ecken. Von Hamburg aus ist sie sehr gut mit dem Auto oder Zug zu erreichen. Die Stadt Lüneburg ist toll und fast komplett als Fachwerk erhalten. Super einsam wird es hinter Uelzen, bei Bokel gibt es super Möglichkeiten zum Wandern. Etwas ländlicher ist übrigens das Gut Bardenhagen — auch eine gute Adresse, um unterzukommen.“ (O-Ton Individualreisende)
5. SHOW ME — Instant-Urlaubserlebnisse von zu Hause aus
Corona hat Videoconferencing zum Durchbruch verholfen. Eine neue Kulturtechnik, die jenseits von langweiligen Businessmeetings auch aufregende (Reise-)erfahrungen möglich macht!
Denn die Leute wollen was lernen. Sei es — vor Corona — Salsa tanzen in Lima, Ski fahren in den Dolomiten, Hindi in Rishikesh, Thai-Paarmassage in Chiang Mai, Niederländisch in der Karibik auf St. Maarten oder Silber schmieden in Taxco, Mexiko.
„Wollte ja eigentlich Niederländisch auf St. Maarten lernen. Hab mich dann umentschieden. Habe in Kapstadt Afrikaans gelernt! War echt super, die Sprache ist total lustig und relativ leicht und die Stadt einfach nur der Hammer!“
(O-Ton Individualreisende)
Diesen Wissensdurst hat Corona in eine deutlich lokalere Veranstaltung gewandelt, was AirBnB mit dem Format Entdecke die Welt von zuhause aus erkannte: „Kochen mit preisgekrönten Küchenchefs“, „Meditation mit einem buddhistischen Mönch aus Japan“, „Handyfotografie mit einem National-Geographic-Gewinner“, „Kenianische Hausmannskost aus meiner Familienküche“ zeigen, was geht, wenn nichts geht, außer das Netz und der Rechner!
Und weil die Sommer in Deutschland immer heißer werden, könnte man spätestens bei „Haute Cuisine aus Rom mit Chefköchin Cristina“ auf die Idee kommen, für 60 Euro Bella Italia ins eigene Wohnzimmer zu holen. Welche Rolle virtuelle Entdecker-Formate in Zukunft spielen werden, schauen wir uns im vierten Artikel unserer Serie noch genauer an.
Fazit: Die wichtigsten Erkenntnisse (tl;dr)
Ging es beim ersten Artikel dieser Serie noch darum, zu zeigen, dass Pauschaltouristen und Individualreisende bei aller Unterschiedlichkeit doch ein gemeinsames Bedürfnis eint — Planungssicherheit! — , so zeigen die Daten, dass die interessanteren Trends bei den Individualis entstehen werden. Davon profitieren natürlich auch die Pauschalis …
Die exotische Fernreise wird größtenteils durch den Wunsch, spezieller und extremer in die Nähe zu reisen, kompensiert. So lautet jedenfalls der Plan. Das heißt: Reiseanbieter, die sich spezialisieren und Vertrauen ausstrahlen (und dieses natürlich nicht verspielen wie mancher Touristik-Tanker), können profitieren.
Auf individueller Ebene werden Urlaubserfahrungen extremer: extremer entspannen, extremer Natur erleben, extremer den Körper verbiegen, extremer ernähren, extremer runterkommen, extremer allein sein, extremer langsam sein.
Im nächsten (dritten) Teil der Corona-Reise-Serie werfen wir einen Blick auf drei weitere Reisetrends: Green Travelling, Home Adventure und Unique-All-Inclusive. Yes, Trendbegriffe müssen englisch sein, sonst sind sie nicht trendy. Der Artikel aber ist wie immer auf deutsch. Versprochen!