tl;dr Wir bei Dark Horse beschäftigen uns mit Zukünften. Nicht im Irrglaube sie vorhersagen zu können, sondern um unseren Weg dorthin zu gestalten. Darüber haben wir mit Eileen Mandir und Benedikt Groß gesprochen, die über die junge Design-Disziplin der Zukunftsgestaltung ein Buch geschrieben haben.
Ihr beschäftigt euch intensiv mit Zukünften und die Art und Weise, wie ihr das macht, nennt ihr Design Futuring. Was ist damit gemeint? Könnt ihr den Ansatz kurz beschreiben?
Eileen: Design Futuring ist ein strukturierter und robuster Kreativprozess, der jede Menge Methoden enthält, wie man systematisch Zukunftsszenarien explorieren, gestalten und diskutieren kann. Eigentlich so ein bisschen wie ein Innovationsprozess, wie wir es vom Design Thinking kennen – Da gibt es ähnliche Denkmuster und Vorgehensweisen. Aber: Die Methoden und die Fragen die man sich stellt, sind offener und beinhalten aufgrund des Zeithorizonts viel mehr Annahmen.
Benedikt: Wenn z.B. Szenarien erarbeitet wurden, ist der Design Futuring Prozess nicht zu Ende. Das ist dann eher der Anfang für Organisationen, indem man diese erarbeiteten Zukünfte im Sinne von möglichen Optionen, verhandeln und Meinungsbildung betreiben kann. Somit könnten Personen einer Organisation rausfinden, was für sie als wünschenswerte Zukunft gilt.
Wo seht ihr den Mehrwert, sich mit Zukünften zu beschäftigen?
Benedikt: Es kommt ein bisschen auf die Flughöhe an. In Wissenschaftsdisziplinen z.B. zum Thema Klimaforschung oder Wirtschaft beschäftigen sich Leute natürlich auch mit Zukunftsszenarien. Hier sehen wir dann oft Szenarien in Diagrammen als best case oder worst case die ziemlich abstrakt und ausschließlich in Textform erscheinen. Mit Design Futuring wollen wir mit den Mitteln des Designs Themen visualisieren und Geschichten erzählen, um ultimativ Zukünfte greifbar, erlebbar und auch fühlbar zu machen. So können wir z.B. Entscheider*innen dabei unterstützen, ins Handeln zu kommen, einen größeren Möglichkeitsraum in der Gruppe diskutierbar zu machen und dadurch bessere Entscheidungen zu treffen.
Eileen: Als Ergänzung: Wir sehen Design Futuring als Erweiterung von vorhandenen Praktiken wie z.B. Design Thinking, was vielleicht schon in Organisationen verbreitet ist.
Wenn wir gegenwärtig über neue Produkte, Services etc. nachdenken, dann ist es ja oft so, dass wir die Anforderungen der User nicht so richtig kennen und dann können wir User Research machen, also Leute befragen, begleitende Beobachtungen machen etc.
Wenn wir aber z.B. über Emerging Technologies reden und weiter in die Zukunft schauen, dann sind die Menschen, die z.B. mit Robotern im häuslichen Alltag sozialisiert wurden, noch nicht da – Die können wir nicht befragen! Und dann bewegt man sich im Bereich der systematischen Spekulation. Man geht also gut informierte Wetten und Annahmen ein, wie etwas sein könnte. Und dafür ist Design Futuring eine Erweiterung der Toolbox, gerade wenn es um einen neuartigen Problemraum geht.
Ein zweiter Gedanke: Wir nutzen den Szenarioentwicklung nicht nur da, wo es um Businessinnovation geht, sondern haben auch sehr gute Erfahrungen gemacht, wenn wir es als Change-Instrument in Organisationen eingesetzt haben. Das kann dann auch mal sehr emotional werden. Ich habe das neulich in einem Projekt erlebt, bei dem es um New Work geht und wir uns unter anderem mit Trends zu Shared Desk und Open Space beschäftigt haben. Das scheint alles toll, wenn es auf post-its steht, aber wenn man dann anfängt das zu bebildern, Narrative und erfahrbare Szenarien zu bauen, geht es plötzlich drum: Wo ist mein Kaktus? Wo ist meine Kaffeetasse etc. Auf einmal wird es super emotional und es kommt was in Gang.
In diesem Kontext haben Szenarien dazu gedient, eine Verhandlung einzuleiten.
Woher kommt Design Futuring eigentlich? Und wie seid ihr darauf gekommen?
Eileen: Naja, wir bewegen uns hier in einem Bereich, in dem die Begriffe nicht stabil sind. Es gibt viele tektonische Platten, die aufeinandertreffen – Da vermengen sich gerade Bereiche und Fähigkeiten von Leuten aus der Zukunftsforschung, aus dem Design, Strategie, Beratung, Kunst etc. Man hört also unterschiedliche Begriffe innerhalb dieses Kosmos, z.B. Speculative Design, Design Fiction, Critical Design, Experiential Futures etc.
Wir haben uns viel mit dem Designtheoretiker und Philosoph Tony Fry beschäftigt, der den Begriff Design Futuring etabliert und ein Buch dazu veröffentlicht hat: Design Futuring: sustainability, ethics and new practice. Darin beschreibt er, dass Design im 21. Jahrhundert als Wirkungsfeld weit über die Ästhetisierung hinausgeht. Was wir außerdem gut finden, ist das Futuring als berufliche Praxis, also als Tunwort und etwas prozesshaftes beschrieben wird. Und auch die Attitude von Tony Fry, dass nur „good design“ ist, was auch nachhaltig ist.
Was sind denn typische erste Schritte, wenn ihr z.B. mit Organisationen zusammenarbeitet, um in das Thema Design Futuring einzuleiten?
Benedikt: In der Regel starten wir mit dem Polak Game als Icebreaker-Spiel. Da wollen wir Teilnehmende sensibilisieren, dass Zukunftsbilder individuell konstruiert und durch subjektive Erfahrungen und Wertvorstellungen gespeist werden. Z.B. hat Greta Thunberg ein ganz anderes Zukunftsbild als etwa Donald Trump. Es sind besonders zwei Fragestellungen die uns beim Polak-Spiel beschäftigen. Zum einen geht es um Fragen zu zukünftigen Erwartungen und zum anderen um Fragen der Selbstwirksamkeit – also die angenommene Fähigkeit, Probleme aus eigener Kraft zu überwinden. Hier entstehen spannende Diskussionen und es wird klar, dass die Zukunft im plural steht und es viele Zukünfte gibt.
Wenn wir dann warm gelaufen sind, gehts in den Prozess. Das heißt, wir sammeln und explorieren Einflussfaktoren wie etwa schwache Signale, Trends und strukturieren diese mit Hilfe bestimmter Schemata. Dann stellen wir uns als Team die Frage, welche dieser Faktoren für uns spannend und relevant sind und bohren dann in die Tiefe. Also wir wollen verstehen, wie etwas wirklich funktioniert, was dahinterliegende Mechanismen sind, was mögliche Implikationen sind, falls dieses oder jenes eintritt. Erst dann können wir Annahmen treffen und aus diesen Annahmen können dann Szenarien gespinnt werden. Das Fluglevel ist hier erst mal abstrakt und unterstützt uns dabei, eine Richtung und Parameter zu finden, die wir weiter verfolgen wollen.
Dann versuchen wir daraus ein erfahrbares Narrativ zu bauen und zu gestalten – mit Hilfe des Designs. Je nachdem endet der Prozess hier aber nicht. Es könnte dann eben eine Meinungsbildung und Strategieableitung folgen.
Irgendwie hat man das Gefühl, dass die Befassung mit zukünftigen Entwicklungen einen Nerv der Zeit trifft. Warum eigentlich?
Eileen: Fear of missing out ist längst im Kontext von Unternehmen und Organisationen angekommen. Man hört „Okay, Big Data, Robotik oder KI, da sollten wir auch was machen“, aber keiner weiß so richtig was eigentlich. Durch diese wahnsinnige Komplexität und Unsicherheit, wissen viele nicht, ob sie von bestimmten Trends betroffen sind. Oder es kommen z.B. neue Player auf den Markt, die man gar nicht auf dem Schirm hatte. Da gibts immer das latente Gefühl, dass man sich das als Organisation doch mal genauer anschauen sollte. Daher ist auch die Anzahl an Abonnenten von sogenannten Trendradaren in die Höhe geschnellt. Die spannende Frage liegt vor allem im Transfer, also wie reagieren wir z.B. auf bestimmte Trends.
Benedikt: Ergänzend dazu: Die Welt ist hoch-connected – Kleine und große Ereignisse wie z.B. die Pandemie haben einiges ins Stolpern gebracht. Wir erleben, wie schnell sich unsere Lebensrealität verändern kann. Vieles scheint noch unübersichtlicher und ungewisser. Da wundert es nicht, dass z.B. die UNESCO seit ein paar Jahren ein Programm hat, was sich Futures Literacy nennt. Da geht es um die Befähigung, Zukünfte zu erdenken und zu verhandeln. Sie beschreiben das als einen gesellschaftlichen key-skill. In einigen Bereichen sehen wir, dass dieses Longterm-Thinking angekommen ist. Z.B. wurde die Bundesregierung verklagt, dass sie die Klimaziele nicht erreichen. Nachfolgende Generationen haben kein Co2 mehr zum Emittieren und schränkt dadurch die Freiheit massiv ein. Das Bundesverfassungsgericht hat da zugestimmt, und das auch mit der intertemporalen Freiheitssicherung argumentiert.
Es scheint, als fällt es uns einfacher dystopisch als utopisch zu denken. Black Mirror und co. ist unterhaltend und lädt sicherlich bei ein paar Menschen zu einem kontroversen Diskurs ein. Und daraus wissen wir vielleicht in welche Richtung man, individuell oder als Gemeinschaft, nicht will. Daher ist das Entwickeln und Verhandeln von wünschenswerten und erfahrbaren Zukünften so wichtig, weil es uns eine positive Richtung vorgeben kann. Ist das eure Motivation?
Benedikt: Eine unserer zentralen Motivationen resoniert stark mit einem Zitat von George Monbiot. „Despair is the state we fall into when imagination fails. When we have no stories that describe the present and guide the future, hope evaporates. Political failure is, in essence, a failure of imagination.“
Unser Anliegen liegt unter anderem darin, einen kleinen Beitrag zu leisten, wie man mit Methoden mehr Vorstellungskraft im Gestalten von Zukünften in die Welt bringen könnte.
D.h. wir bauen wünschenswerte Szenarien, um letztendlich besser über strategische Schritte verhandeln zu können?
Eileen: Ja, oft ist es ein Startpunkt für einen Diskurs. Es gibt in der Regel einen Blumenstrauß an Szenarien, die aufzeigen, wie etwas sein könnte. An einen solchen Diskurs kann sich dann ein Entscheidungsprozess anschließen und mit Aktionen verbunden sein wie: Neuausrichtung der Strategie; Ausführliche Technikexploration; Changeprozess einleiten; etc.
Benedikt: Ich denke, dass der Mehrwert eines Workshops nicht unbedingt das entwickelte Zukunftsszenario ist – sozusagen „Jetzt haben wir die Lösung“. Wir sehen den Design Futuring Prozess eher als Vehikel, um Gespräche zu führen, Meinung zu verhandeln, um dann schlussendlich besser informierte Entscheidungen zu treffen. Es befeuert also den Diskurs.
Viele Organisationen erleben gerade ganz viel Flirren in der Welt, wo um sie herum richtig viel passiert, und es sehr schwierig ist, damit umzugehen. Man kann nicht auf alles reagieren, aber kann es auch nicht ignorieren. Wenn ich Design Futuring mit systemischer Beratung vergleiche, erkennt man Ähnlichkeiten, indem z.B. Zielbilder formuliert werden. Wenn Personen den Eindruck haben, nicht mehr zu wissen wie es weitergeht, dann kann es super hilfreich sein Bilder von einem Zielzustand herzustellen. Und wenn man mal Bilder hat, scheint es einfacher sich darauf zuzubewegen.
Benedikt: Ich würde sagen, das ist Backcasting. D.h. sobald wir ein paar Zukunftsbilder haben, können wir Schritte ableiten wie wir dahin kommen.
Eileen: Ein prominentes Beispiel, wenn es darum geht vom Ziel her zu denken, ist das Vorhaben, das von der Pariser Bürgermeisterin Anne Hidalgo getrieben wird. Hier geht es um das Zielbild der 15 Minuten Stadt, in der innerhalb von 15 Minuten alles Wichtige für Bürger*innen erreichbar ist. Die Innenstadt wäre möglichst frei von Autos, Parkplätze und Straßen werden zu Parks und Gärten etc.
Um nochmal konkret auf die erfahrbaren Zukünfte einzugehen: Wie genau könnte das für ein Publikum erfahrbar werden?
Benedikt: Es gibt ganz viele unterschiedliche Mittel sowas erfahrbar zu machen. Es könnte z.B. ein Rollenspiel sein. Jemand schlüpft in eine Rolle und mimt eine Pressekonferenz nach, in der beispielsweise ein neues Produkt vorgestellt wird und Journalisten, als weitere Rolle, Fragen dazu stellen. Oder es könnte ein Szenario-Video erstellt werden, worin ein Alltag in der Zukunft gezeigt wird, um einen nachvollziehbaren Eindruck davon zu bekommen, wie es wäre darin zu leben. Anders als bei Black Mirror, wo die Gestaltungsabsicht vor allem Unterhaltung ist, geht es bei uns darum, das Publikum zu befähigen, sich einen Alltag in der Zukunft vorstellen zu können. Das kann dann auch Gegenstände beinhalten, die in eine Zukunft transferiert werden.
Eileen: Diese Gegenstände nennen wir Artefakte, die idealerweise für ein Publikum tatsächlich greifbar bzw. erfahrbar sind. Das kann dann auch manchmal einen ganz emotionalen Bezug herstellen. Ein spannendes Projekt, das im Auftrag der Regierung der Vereinigten Arabischen Emirate entstand, befasste sich mit möglichen Szenarien der zukünftigen Energieversorgung. In einem Szenario war das Artefakt eine Art Kartusche, das eine Luftprobe aus der Zukunft zum Einatmen bereitstellte. In diesem Fall ein giftig stinkendes Gemisch, das die negativen Auswirkungen erfahrbar gemacht hat, wenn es so weiter geht wie bisher.
Ende letzten Jahres habt ihr ein Buch mit dem Titel: „Zukünfte gestalten – Mit Design Futuring Zukunftsszenarien strategisch erkunden, entwerfen und verhandeln“ herausgebracht. Im Juni machen wir gemeinsam einen 2-tägigen Workshop mit dem Thema: Strategien und Szenarien mit Design Futuring. Vielleicht haben wir bei unseren Leser*innen Interesse geweckt, sich mit diesem Bereich mehr auseinanderzusetzen. Für wen ist dieses Angebot?
Eileen: Grundsätzlich für alle Leute die ein Rolle haben sich mit zukünftigen Entwicklungen zu befassen, z.B. im Innovationsmamagement, Forschung & Entwicklung, Strategieentwicklung, Organisationsentwicklung, Design, etc. Mit dem Design Futuring Prozess wollen wir einen Methodenkasten anbieten, bei dem z.B. textbasierte Ideenskizzen oder sinnlich erfahrbare Zukünfte rauskommen, die dann eben verhandelt werden können.
Wir freuen uns auf die Zusammenarbeit. Danke für das Interview.
- Workshop an zwei Tagen: Design Futuring
- HURRA HURRA – ein Designpodcast der BURG bei Spotify
- Templates zum Buch auf http://zukuenfte-gestalten.info/
Prof. Dr. Eileen Mandir
vereint auf unkonventionelle Art und Weise mehrere Disziplinen: 30% Ingenieurin, 50% Designerin, 20% Change Agent. Sie gehört durch ihren ungewöhnlichen Werdegang zu den wenigen Akademiker*innen, die auf den Perspektivwechsel – das Vermitteln zwischen den Disziplinen – spezialisiert sind. Eileen studierte Technische Kybernetik an der Universität Stuttgart und promovierte anschließend im Bereich Traffic Management. Danach widmete sie sich 10 Jahre in unterschiedlichsten Rollen und Positionen in Wissenschaft und Wirtschaft den Zukünften der Mobilität als Forscherin, Managerin und Strategische Beraterin.
2016 beschloss sie, ihren Chefposten zu verlassen, um das bestehende System von außen mit neuen Augen zu betrachten, verstehen und zu verändern. Heute begleitet sie unternehmens- und institutionsinterne Transformationsprozesse und öffentliche Akteurs- und Zukunftsdialoge. Seit 2022 ist sie Professorin für Systemisches Design im Kontext von sozialem Wandel und transformativen Prozessen an der Fakultät für Design der Hochschule München. Eileen lebt mit ihrer Frau in Stuttgart und Côtes d’Armor.
Prof. Benedikt Groß
ist ein anti-disziplinärer Designer mit Schwerpunkt Design Futuring und Computational Design. Benedikt ist fasziniert von den Wechselwirkungen zwischen Menschen, Daten, Technologie und Umwelt. Für ihn ist Design ein Medium, um über dieses Spannungsfeld zu spekulieren und mögliche Implikationen in der nahen Zukunft zu visualisieren. Er studierte Informations- und Mediendesign an der Hochschule für Gestaltung Schwäbisch Gmünd, Design Interactions unter Dunne & Raby am Royal College of Arts und forschte am MIT Senseable City Lab.
Danach war er einige Jahre in der Industrie und Kreativbranche als Freiberufler, Research Associate und Design Director tätig. Seine Arbeiten sind international erfolgreich, wurden vielfach veröffentlicht und ausgestellt. Benedikt ist Co-Autor des international erfolgreichen Standardwerkes »Generative Gestaltung« und Alumnus des CMU Studio for Creative Inquiry. Seit 2017 ist er Professor für Interaction Design und Strategic Design an der HfG Schwäbisch Gmünd und leitet dort den Masterstudiengang Strategische Gestaltung. Benedikt lebt mit seiner Familie in Ravensburg und Vorarlberg.