Ein Gastbeitrag von Pim de Morree und Joost Minnaar aus ihrem Buch „Corporate Rebels – Wie Pioniere die Arbeitswelt revolutionieren“.
tl;dr Tag für Tag werden erwachsene Menschen am Arbeitsplatz wie Kinder behandelt. Bürokratie und Machtspiele prägen den Alltag, einige Wenige bestimmen, wie die Mehrheit zu arbeiten hat. Die Folge: 85 Prozent der Angestellten leisten höchstens Dienst nach Vorschrift, ein Drittel sieht keinen Sinn im Job. Das kostet viele Nerven und noch mehr Geld. Muss das so sein?
Dieser Beitrag ist ein Auszug und erschien ursprünglich in dem Buch „Corporate Rebels – Wie Pioniere die Arbeitswelt revolutionieren“.
Mitten in der holländischen Polderlandschaft gibt es eine Gemeindeverwaltung, die eindrücklich zeigt, wozu eine Organisation fähig ist, die sich einem gemeinsamen höheren Zweck verschrieben hat. Neugierig geworden durch verschiedene Geschichten, machen wir uns auf den Weg, um die Rebellen Anja van der Horst und Wim van Twuijver kennenzulernen.
Sie arbeiten in der Verwaltung von Hollands Kroon, einer aus vier Städten fusionierten Gemeinde im Nordwesten der Niederlande mit knapp 50.000 Ortschaften. Wir fahren durch eine Landschaft, die so typisch holländisch ist, dass sie perfekte Postkartensujets liefern würde: eingedeichtes Poldergelände, durchzogen von Wasserkanälen und gespickt mit Windmühlen.
Im Ratsbüro führt uns van der Horst in einen hellen Raum. Die Beleuchtung wirkt beinahe festlich auf uns. Van der Horst hat ein gewinnendes Lächeln und wirkt sehr unkompliziert. Mit ihren kurzen, lockigen Haaren und der schwarzen Lederjacke strahlt sie etwas Rebellisches aus. Wir erhalten einen Kaffee und setzen uns.
Als Mitglied des dreiköpfigen Leitungsteams hat Anja van der Horst eine führende Rolle gespielt bei der bemerkenswerten Transformation der Verwaltung. „Die neue Stadtgemeinde ist 2012 entstanden, als Resultat der Fusion der vier Gemeinden Anna Paulowna, Wieringen, Wieringermeer und Niedorp“, erzählt van der Horst.
„Eine Gruppe von Bürgermeistern und Stadträten hat konsequent auf die notwendige Veränderung hingearbeitet. Die Leute fragten sich, was sie durch die Fusion erreichen können, was der Zusatznutzen sein könnte für die Bürgerinnen und Bürger.“
Alles in allem haben wir 70 Prozent der Regeln über Bord geworfen.
Anja van der Horst
Hollands Kroon entschied sich, die beste Stadtverwaltung in ganz Holland zu werden, komplett auf die sich stetig verändernden Anliegen der Bürgerinnen und Bürger ausgerichtet. „Die Leute verlangen Tempo, Effizienz und Kundennähe“, sagt van der Horst. „Das bedeutet, dass regionale Verwaltungen die alten Muster durchbrechen und sich permanent fragen müssen: Können Dinge besser, günstiger und einfacher erledigt werden?“
Hollands Kroon machte die permanente Verbesserung zu einer Schlüsselaufgabe und bestimmte zu diesem Zweck sechs Kernwerte: Vertrauen, Mut, Enthusiasmus, Beziehung, Respekt und Innovation.
Zur Implementierung dieser Kernwerte ins Tagesgeschäft holte die Direktion bei allen Angestellten Vorschläge ein. „Es braucht ein schrittweises Vorgehen“, begründet van der Horst, „denn die Werte sollen kein hehres Ziel bleiben, sondern Teil unserer Identität werden.“
Am Anfang stand das Vertrauen. Die Etablierung dieses Kernwertes ermöglichte es, unnötige Regeln abzuschaffen, ohne ein Sicherheitsrisiko einzugehen. In dieser Verwaltung muss niemand um Erlaubnis bitten, wenn er frei nehmen möchte, und die Arbeitszeiten werden weder vorgeschrieben noch überprüft.
Die Angestellten können Weiterbildungen auswählen, und es wird Geld investiert in ihre Entwicklung. Die Macht der Entscheidung liegt in den allermeisten Fällen bei den Angestellten. Der Kundendienst wurde nach der Fusion neu konzipiert und die Gemeindeordnung von Grund auf verändert.
„Alles in allem haben wir 70 Prozent der Regeln über Bord geworfen“, bilanziert Anja van der Horst und erläutert den Schritt mit den Worten: „Ich bin überzeugt, dass es extrem viel Positives bewirkt, wenn man den Menschen Vertrauen schenkt.“ Unkomplizierte Zusammenarbeit ist innerhalb kürzester Zeit zur Norm geworden für die Bürgerinnen und Bürger von Hollands Kroon.
Viele ihrer Anliegen werden digital bearbeitet, der mühsamen Gang zur Behörde entfällt. Fragen beantwortet die Verwaltung über die Internetseite, auf Social-Media-Kanälen oder per Telefon. Wenn das Problem auf diesem Weg nicht zu lösen ist, besucht der Beamte den Bürger, um mit ihm eine Lösung zu finden.
Viele Produkte und Dienstleistungen sind gratis. So ist Hollands Kroon die erste Stadtverwaltung, die für ihre Einwohner gratis Pässe ausstellt, und zwar an sechs Tagen pro Woche. Sie hat sich einen Namen gemacht als jene Behörde, die auf die Einwohnerinnen und Einwohner zugeht.
Doch Veränderung ist nie nur erfreulich. Es gab auch unvermeidbare Entlassungen, und da zeigte sich die Bedeutung des Kernwerts Respekt. „Manche kündigten von sich aus, andere wurden entlassen“, erläutert van der Horst.
„Wir behandelten sie alle mit dem gleichen Respekt. So verließen sie uns ohne Ausnahme als Botschafter. Es gab keine Anfeindungen und keine gerichtlichen Auseinandersetzungen.“
Alle Personen, die sich für eine Anstellung bewerben, müssen einen Grundwerte-Test absolvieren. „So finden Kandidaten am besten heraus, ob Hollands Kroon zu ihnen passt“, begründet van der Horst.
„Es ist eine Gelegenheit, die Organisation wirklich kennenzulernen. Es geht nicht primär um Lebensläufe oder Kompetenzen, sondern um die Persönlichkeit. Nur wenn es auf dieser persönlichen Ebene passt, hat der Kandidat die Chance, die nächste Runde zu erreichen, in der jobspezifische Fähigkeiten angeschaut werden. Es gibt oft zwei oder drei Selektionsrunden, wobei in jeder Runde andere Kriterien gelten. Manchmal gilt es, eine Fallstudie zu bearbeiten, manchmal gibt es ein Rollenspiel, ein andermal absolvieren Kandidaten einen Probearbeitstag. Es gibt viele Möglichkeiten herauszufinden, ob es für beide Seiten passt.“
Nach ähnlichen Prinzipien handelt auch der Musikstreaming-Dienst Spotify, der auf das Motto schwört: „Stelle Menschen aufgrund ihrer Haltung ein und bilde dann ihre Fähigkeiten aus!“ Bei den 100 Personen, die Spotify Monat für Monat einstellt, wird die Aufmerksamkeit immer zuerst darauf gerichtet, ob die Grundhaltung stimmt und jemand zur Unternehmenskultur passt.
Erst danach werden die Talente, Qualifikationen und Fähigkeiten genauer angeschaut. Personaldirektorin Katarina Berg gab uns einen näheren Einblick in die Praxis bei Spotify, als wir sie am Hauptsitz in Stockholm besuchten.
„Zuerst gingen wir genau umgekehrt vor“, erklärte sie, „und es war enorm schwierig, jemanden nicht einzustellen, der uns mit exzellenten Fähigkeiten überzeugt hatte, aber möglicherweise nicht so gut zur Unternehmenskultur passte. Deswegen prüfen wir nun zuerst, ob die Kernwerte übereinstimmen. Diese kleine Korrektur hat uns wirklich sehr geholfen, besser zu werden bei der Rekrutierung.“
In Hollands Kroon wurden deutlich radikalere Veränderungen umgesetzt. Die Resultate sind bemerkenswert. In der neuen Organisationsstruktur gibt es gerade einmal drei Vorgesetzten-Funktionen, ansonsten arbeiten 35 selbstorganisierte Teams für die Bürgerinnen und Bürger.
All diese Teams – die meisten bestehen nur aus fünf bis acht Personen – sind selber verantwortlich für ihre Budgets, für die Rekrutierung, Kommunikation und die Erreichbarkeit für die Einwohner. Einzelbüros sind ebenso abgeschafft worden wie die Stempeluhr-Mentalität. Das alles sind ziemlich rebellische Schritte für eine Organisation mit 330 Angestellten, finden wir. Erst recht, wenn es sich um eine Verwaltung handelt.
PIONIER-BEISPIELE AUS ALLER WELT
Höherer Unternehmenszweck und Kernwerte – diese Begriffe mögen etwas abgehoben klingen. Sobald man allerdings berücksichtigt, welche potenziellen Vorteile sich Unternehmen verschaffen, die sich ernsthaft damit beschäftigen, wird die Auseinandersetzung damit zum Pflichtprogramm.
Die Pionierorganisationen, die auf unserer Liste stehen, haben bewiesen, dass es sich auszahlt, alles einem sinnstiftenden Unternehmenszweck unterzuordnen. Es erhöht die Motivation der Angestellten, erhöht ihr Engagement und korreliert sehr direkt mit besseren finanziellen Ergebnissen.
Unternehmen mit klarem Fokus auf einem höheren Unternehmenszweck schneiden bis zu zehn Mal besser ab als ihre Mitbewerber. Kunden sind offenbar bereit, mehr zu zahlen für Produkte und Dienstleistungen von Unternehmen, deren Ambition es ist, etwas Positives zu bewirken.
Professor Adam Grant und seine Forscherkollegen erörtern in einem Beitrag in der „Harvard Business Revue“, was Unternehmen tun sollten, um Talente zu gewinnen und zu halten. Ihr Fazit ist wenig überraschend: Ein höherer Unternehmenszweck und stimmige Kernwerte sind starke Pluspunkte im Kampf um Talente.
Wie stellt man aber sicher, dass der Unternehmenszweck und die Kernwerte eine zentrale Rolle spielen im Unternehmensalltag? Was haben wir gelernt bei unseren über hundert Firmenbesuchen? Was zeichnet die Pioniere aus?
Wir wollen zum Schluss dieses Kapitels fünf konkrete Möglichkeiten aufzeigen, die es Ihrer Organisation erlauben, besser zu werden und sich zu profilieren.
LEVEL 1: BESTIMMEN SIE DEN UNTERNEHMENSZWECK!
Es ist bekannt, dass bei Problemen die Führung die Verantwortung trägt. „Der Fisch stinkt vom Kopf her“, besagt ein entsprechendes Sprichwort. Umgekehrt gilt auch: Der Kopf, sprich: die Führung muss vorangehen bei der Ausrichtung auf einen höheren Unternehmenszweck.
Danach kann sie Gleichgesinnte ins Boot holen, nicht nur eigene Mitarbeiter, sondern auch solche bei Kunden, Lieferanten, Hilfswerken etc. und diese einladen, Teil der Revolution zu werden oder diese zumindest zu unterstützen. Der Unternehmenszweck muss ein paar Merkmale erfüllen:
Er soll authentisch, ehrlich, furchtlos und realistisch sein. So dient er dem Unternehmen als moralischer Kompass, nach dem der Kurs in guten wie in schlechten Zeiten ausgerichtet werden kann.
Der höhere Unternehmenszweck muss echte Orientierung vermitteln – speziell, wenn die Angestellten wegen Verlusten oder anderen Schwierigkeiten frustriert sind. Ganz egal, wie herausfordernd oder verwirrend die Situation gerade ist, der Unternehmenszweck ist der unerschütterliche Fels in der Brandung.
Er gibt Antworten auf Fragen wie: Warum gibt es diese Firma? Weshalb tun wir, was wir tun? Welchen Mehrwert schaffen wir? Wer sind wir? Stehen wir für unsere Worte ein? Für wen legen wir uns ins Zeug? Welche Veränderung wollen wir bewirken?
Die Antworten müssen als Richtlinien dienen können für jede Tätigkeit, jede Entscheidung, jede Person im Unternehmen.
LEVEL 2: SORGEN SIE DAFÜR, DASS DIE BOTSCHAFT ALLE ERREICHT!
Entscheidend ist nicht, dass der Unternehmenszweck niedergeschrieben wird, sondern wie gut er geteilt und gelebt wird. Ganz egal, ob es Ihr erster oder Ihr letzter Tag im Unternehmen ist, ob Sie der Chef sind oder ein einfacher Angestellter, der Unternehmenszweck bleibt der gleiche.
Wir erinnern uns an das Beispiel Patagonia und die Besichtigung der Baumwoll-Plantagen. Oder denken wir an Zappos, wo alle Angestellten im Kundendienst eingesetzt werden, bevor sie andere Funktionen übernehmen. Sie machen auf diese Art Erfahrungen, die ihnen helfen zu verstehen, weshalb Dinge so oder anders gemacht werden.
Der höhere Zweck und die Kernwerte dürfen nicht nur in der Chefetage oder in einzelnen Abteilungen bekannt sein. Sie müssen in allen Unternehmensbereichen gleichermaßen zur Anwendung kommen. Stellen Sie deshalb sicher, dass jede Abteilung, jedes Team, jede Person sich im Klaren ist, welchen Beitrag sie dazu beisteuern will.
LEVEL 3: STELLEN SIE PERSÖNLICHKEITEN EIN UND TRAINIEREN SIE IHRE FÄHIGKEITEN!
Herb Kelleher, der Gründer der Fluggesellschaft Southwest Airlines, sagte einmal: „Das Kerngeschäft der Unternehmen sind die Menschen.“ Southwest stellt Leute aufgrund ihrer Werte, ihrer Haltung ein. Die Firma hat verstanden, dass die Angestellten die Hüter der Unternehmenskultur sind.
Es zahlt sich aus, in diesem Bereich keine Kompromisse zu machen. Man kann Menschen darin ausbilden, Flugzeuge zu steuern und Passagiere zu bedienen; aber man kann nicht ihre Persönlichkeit ändern. Deshalb legt Southwest so viel Wert auf eine sorgfältige Rekrutierung.
Kandidaten, die nicht zum Unternehmen respektive zu ihrer Aufgabe passen, werden schon vor der Anstellung rausgefiltert oder während einer sechsmonatigen Probezeit darauf aufmerksam gemacht. Diese strenge Selektion wirkt sich positiv aufs Arbeitsklima aus.
Eine Mitarbeiterbefragung hat ergeben, dass 75 Prozent der Southwest-Angestellten ihren Job als Berufung sehen und 86 Prozent stolz sind, für diese Fluggesellschaft zu arbeiten. Träumen nicht alle Arbeitgeber von solchen Werten?
LEVEL 4: MESSEN SIE DIE WIRKUNG UND TEILEN SIE DEN ERFOLG!
Erreichen Sie Ihre Ziele? Angestellte wollen ihre Rolle als Teil eines größeren Ganzen verstehen. Zu wissen, dass das eigene Tun etwas Gutes bewirkt, ist eine wichtige Quelle der Zufriedenheit. Messen Sie deshalb den Impact des Unternehmens und kommunizieren Sie ihn transparent!
Patagonia gibt jedes Jahr bekannt, wie hoch die mit den Geschäftsaktivitäten verbundene Umweltverschmutzungsrate ist – und wie hoch jene der Non-Profit- Organisationen, die man unterstützt. Tony’s Chocolonely misst, wie sich der Sklavenhandel entwickelt in der Kakaoindustrie, und teilt diese Daten offen mit der Kundschaft.
LEVEL 5: LASSEN SIE IHREN WORTEN TATEN (UND GELD) FOLGEN!
Es ist nicht entscheidend, wie laut Sie schreien, maßgebend sind Ihre Taten. Die Glaubwürdigkeit wird rasch verspielt, wenn laut verkündete Dinge nicht zu Ende gebracht werden.
Patagonia stoppte sehr profitable Produktelinien, um die Umweltverschmutzung einzudämmen, und spendete die Black-Friday-Einnahmen für gute Zwecke. Ein Prozent der jährlichen Einnahmen gehen an diverse Non-Profit-Organisationen. So bekennt sich das Unternehmen jeden Tag zu seinem höheren Unternehmenszweck.